Im Zusammenhang mit der Erörterung des Richterrechts wurde bereits darauf hingewiesen, dass wegen der Mehrdeutigkeit sprachlicher Ausdrücke die Deutung des Gesetzestextes häufig mehrere Möglichkeiten des Verständnisses zulässt. Die Tätigkeit des Verdichtens des abstrakten Gesetzestextes in Richtung auf eine dieser Möglichkeiten ist die Auslegung (juristische Hermeneutik). Da das Gesetz sich der Sprache bedient, teilt es die Probleme der Sprache, die aus den genannten Gründen nicht vollständig exakt Bedeutungen zum Ausdruck bringen kann. Gesetze sind daher - wie andere Texte auch - auslegungsbedürftig. Rechtsanwendung ist somit zu einem großen Teil Auslegung von Gesetzen. Die Gesetzesauslegung hat einen ähnlichen Stil wie die Rhetorik; sie bedient sich ebenso des Austauschs und des Abwägens von Argumenten. Der Versuch, die Auslegung zu formalisieren und einen numerus clausus von Begründungselementen zusammenzustellen, kann wohl nicht gelingen. Der im 19. Jahrhundert verwendete sogenannte „Auslegungskanon“ (grammatische, historische, systematische, teleologische Auslegung) gibt jedoch wertvolle Anregungen; abschließend gelöst ist das Auslegungsproblem damit nicht. Insbesondere das Verhältnis der einzelnen „Auslegungsarten“ zueinander bleibt problematisch. Neben das kognitive Element tritt bei der Rechtsanwendung wie in der Rhetorik ein volitives; es lässt sich nicht vollständig ausschalten. Die Aufstellung von verbindlichen Auslegungsregeln verschleiern das nur. |