Von den Maßnahmegesetzen, wie z. B. Haushaltsplänen, einmal abgesehen sind die Gesetzesvorschriften abstrakt-generell formuliert, was bedeutet, dass sie eine unbestimmte Vielheit von Fällen betreffen und sich an eine unbestimmte Vielheit von Personen richten. Sie bedürfen daher der Konkretisierung im Einzelfall. Weil die Sprache als ein lebendiges, durch Gebrauch sich permanent entwickelndes und veränderndes Kommunikationsmittel es nicht zulässt, einen Sachverhalt völlig eindeutig und unmissverständlich abstrakt zu beschreiben, treten bei der Konkretisierung Zweifelsfragen auf, die bei Verwendung einer lebenden Sprache unvermeidbar erscheinen. (Dieser Befund begrenzt auch die Möglichkeiten des Einsatzes der elektronischen Datenverarbeitung bei der richterlichen Entscheidungsfindung.)
Die jedenfalls in den Randbereichen diffusen Bedeutungsinhalte der Gesetze bedingen einen Entscheidungsspielraum des rechtsanwendenden Richters bei der Konkretisierung des Gesetzes im Einzelfall. Aus dem Gesetz läßt sich nun einmal nicht für jede Lebenssituation eine verbindliche Anweisung für die richterliche Entscheidung entnehmen. In einem Rechtsstaat darf der Richter jedoch nicht die Entscheidung eines Rechtsstreits mit der Begründung verweigern, dass das Gesetz eine klare und eindeutige Richtschnur für die Entscheidung vermissen läßt. Dem steht der auf das Rechtsstaatsprinzip gestützte Justizgewährleistungsanspruch des Bürgers gegen den Staat entgegen.
Für den verfassungsmäßigen Aufbau des modernen Staates ist eine "konkurrierende Zuständigkeit" des Gesetzgebers und des Richters bei der Rechtsgestaltung geradezu kennzeichnend: Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, Richtlinien für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zu erlassen, an die der Richter gebunden ist. Im Rahmen und in den Grenzen dieser Richtlinien entscheidet der Richter eigenverantworlich. Das Bild einer konkurrierenden Zuständigkeit des Richters ist nicht dahin misszuverstehen, daß der Richter nun befugt wäre, abstrakt-generelle Regelungen zu treffen, wenn der Gesetzgeber einen bestimmten Sachverhalt nicht eindeutig geregelt hat. Vielmehr wirkt die richterliche Entscheidung von Rechts wegen immer nur im Einzelfall des konkreten Rechtsstreits.
Tatsächlich geht indes die Wirkung richterlicher Entscheidungen über den Einzelfall hinaus. Da die Entscheidung auf wohlerwogenen Gründen beruht, wird der Richter in einem vergleichbaren Fall wieder so entscheiden. Auch andere Richter orientieren sich in ihrer Rechtsprechung an veröffentlichten Präjudizien. Die so zustande kommende inhaltliche Gleichförmigkeit richterlicher Entscheidungen ermöglicht den Bürgern, sich in ihrem Verhalten darauf einzustellen. So entstehen faktisch aus Gerichtsentscheidungen Verhaltensregeln. In diesem Sinne kann man von "Richterrecht" als einem Bestandteil der Rechtsordnung unterhalb der Ebene von Gesetzes- und Gewohnheitsrecht sprechen.
Im Bereich des Privatrechts war und ist das Arbeitsrecht die Domäne des Richterrechts. Schon vor Inkrafttreten des BGB ist berechtigte Kritik daran geübt worden, dass der Entwurf die Realität der Arbeitsverhältnisse nicht hinreichend beachtete. Das Dienstvertragsrecht der §§ 611 ff. BGB war zugeschnitten auf die selbständige Erbringung von Dienstleistungen und nicht auf die Bedürfnisse des Arbeitnehmers, der unselbständig in das Unternehmen des Arbeitgebers eingegliedert war und dessen Direktionsrecht ausgesetzt war.
Die Rechtsprechung - wesentlich gefördert durch die Schaffung einer eigenständigen Arbeitsgerichtsbarkeit - hat sich der Unzulänglichkeit des Gesetzes beherzt angenommen und in Ergänzung und Abänderung gesetzlicher Regelungen durch mutige Nutzung der durch die Generalklauseln eröffneten Spielräume ein eigenständiges Arbeitsrecht geschaffen. Arbeitsrecht war und ist zu einem großen Teil immer noch genuines Richterrecht, wenn auch die neuere Gesetzgebung die sozialen Defizite der privatrechtlichen Regelung des Arbeitsverhältnisses zum Teil beseitigt hat, sodass der Richterrechtsanteil des Arbeitsrechts tendenziell abnimmt.
|